Bewegtbild im Aufwind

.
Man mag es kaum glauben, aber vor zehn Jahren spielten weder Smartphones noch Facebook eine Rolle im Alltag von Internetnutzern. Selbst Youtube war 2006 erst gerade ein Jahr alt. Trotzdem übernahm bereits im Oktober gleichen Jahres Google die Geschicke. Der Kaufpreis von rund 1,6 Milliarden Dollar für eine Internetseite die mit einem Elefantenvideo der Gründer startete, wurde mit viel Häme kommentiert. Eine Dekade später machen Videoinhalte geschätzte 60 Prozent des Internet-Traffics aus und der Youtube-Firmenwert wird von Analysten auf 35 bis 45 Milliarden Dollar taxiert.

Wie kaum eine andere Plattform steht Youtube als Synonym für Videos im Web. Zu Beginn als Seite für allerlei Nonsens oder lustige Katzenvideos belächelt, führt im Online-Marketing heute kaum noch ein Weg am Videogiganten vorbei. In den vergangenen drei Jahren ist die Wiedergabezeit auf Youtube jährlich um mindestens 50 Prozent gestiegen. Die unaufhaltsam wachsende Bewegtbild-Erfolgsgeschichte gilt hinter Google Search zugleich als zweitgrösste Suchmaschine und drittgrösste Website weltweit (nach Facebook). Damit rangiert das Videoportal u. a. deutlich vor klassischen Suchmaschinen wie Bing von Microsoft oder dem Internet-Urgestein Yahoo.

Was steckt hinter der Faszination Youtube?

Youtubes Videoangebot punktet etwa durch zeitunabhängige Erreichbarkeit und als regelrechtes Web-Paradies für lesefaule User. Zum Erfolg des gebotenen Video-Contents tragen nicht zuletzt Faktoren wie menschliche Empathie, Mitgefühl und eine Portion Voyeurismus bei. Wichtige Schlüsselspieler der Plattform sind hierbei publikumswirksame Youtuber. Das Unternehmen fördert durch strategische Programme sowie eigene Produktionseinrichtungen (YouTube Spaces) in Los Angeles, New York, London, Tokio, Sao Paulo und Berlin seine aussichtsreichsten „Videokünstler“ sogar aktiv. Für praktisch jede Zielgruppe inszeniert sich eine bunte Mischung an möglichst nahbar und authentisch wirkenden Protagonisten. Denn durchschlagenden Youtube-Erfolg haben oftmals Identifikationsfiguren, die gut und gerne die eigenen Nachbarn sein könnten. Hochstehende Forschungsdebatten, Fitnessübungen, technische Anleitungen, Rezepte zum Nachkochen, Geschichtslektionen, Businesstipps oder Schminkkurse: Kein Thema zu banal – und scheinbar auch kaum eines zu komplex – als dass Youtuber und Channels nicht mehr oder minder schlüssige Antworten zu liefern wüssten.

Youtube-Bewegtbild-Tourismus-Digitalisierung
Video-Content immer und überall empfangen (Foto: Flickr, Youtube App by freestocks.org, CC0 1.0)

Von Kritikern gerne als Zeichen zunehmender „Volksverblödung“ heraufbeschworen, wird Youtube seitens Anhängerschaft gar als „Demokratisierung des Fernsehens“ gefeiert. Fest steht, dass das Portal zu einem veritablen TV-Schreck mutiert ist. Alleine in den USA erreicht es mehr Nutzer im Alter von 18 bis 49 Jahren als jedes Kabel-TV-Netzwerk. Youtube darf nebst Netflix als einer der einflussreichsten Treiber hinter On-Demand-Bestrebungen im Film- und Fernsehmarkt bezeichnet werden. Welch Beachtung Youtube ein Jahrzehnt nach seiner Gründung findet, verdeutlicht zudem folgende Anekdote: War Musikfernsehen à la MTV und VIVA für die Jugend- und Popkultur in den Neunzigern tonangebend, kann diese Rolle heute dem Videoportal und seinen Youtube-Stars und -Sternchen zugebilligt werden. Es existieren mittlerweile alleine zehn Musikvideos, die mehr als eine Milliarde Views zählen. Zur Verdeutlichung: Das sind pro Video mindestens tausend Millionen Aufrufe, wobei Gangnam Style von PSY (aktuell mehr als 2,5 Milliarden Views) seit 2012 die Liste der meistgeklickten Clips anführt. Einst Internet-Utopie, hat rasanter technischer Fortschritt global-virale Videoverbreitung begünstigt: Social Media, Schnellere Datenübertragung und exponentiell gewachsene Serverkapazitäten waren Grundvorausetzungen für den Siegeszug von Bild mit Ton. Hochauflösende Videos lassen sich heute auf jedem Smartphone, ortsunabhängig und selbst an abgelegensten Orten zusehends ruckelfrei abspielen. Stellt sich dabei die Frage, ob technische Innovation weiter Schritt halten kann, oder nicht das Zweiklasseninternet zusehends zur Realität werden könnte (siehe Debatten zur Netzneutralität).

Doch zurück zum Hier und Jetzt. Dass Bewegtbild bei Nutzern und Werbetreibenden im Fokus steht, ist auch stark gewandeltem Medien- und Werbemarkt, und damit dem Nutzerverhalten geschuldet. Nicht nur hat die Digitalisierung die klassischen Werberealitäten auf den Kopf gestellt, auch Online-Marketing selbst ist mit Umwälzungen konfrontiert. Kostenpflichtige Online-Anzeigen sowie Banner-, Popup-Werbung und Werbeunterbreuchung entfalten vielfach nicht gewünschte Wirkung. Schlimmer noch; Konsumenten beurteilen die Online-Adaptionen von Printwerbung als signifikant störender oder ignorieren sie infolge Reizüberflutung. Werbung die anvisiertem Inhalt lästig im Weg steht, weckt selten positive Emotionen. Die Folge: Adblocking-Programme (Werbeblocker) für Webbrowser sind auf dem Vormarsch.

Content-Marketing als Befreiungsschlag

Inhalte zu kreieren die Nutzer freiwillig konsumieren, scheint das Werbe- und PR-Gebot der Stunde. Mit Content-Marketing ist unlängst auch passendes Buzzword hierfür gefunden. Eines, das eigentlich keine bahnbrechende Neuheit darstellt: Möglichst informativ, beratend und/oder unterhaltend müsse sein wer wirksam auffallen will. So lautet zurzeit vielgepriesene Rückbesinnung auf alte Kommunikationstugenden.

Mit erkennbarem Mehrwert bei Zielgruppen punkten? Auf den ersten Blick eine aus Nutzerperspektive durchaus begrüssenswerte Einsicht. Allerdings wird moniert, dass die Grenze zwischen redaktionellen und bezahlten Medieninhalten online wie offline immer undurchsichtiger werde. Nicht zuletzt sind solche Befürchtungen dem im Aufschwung begriffenen „Native Advertising“ geschuldet. Dass Journalisten auch für Werbekunden schreiben, scheint kein absolutes Tabu mehr. Dabei springen nicht nur Medienunternehmen vermehrt auf den komerziell interessanten Zug mit bezahlten Beiträgen auf. Auch für zielgruppengerechte (Berufs-)Youtuber, Blogger und Social-Media-Influencer kann Lohnschreiben lukratives Geschäft darstellen (Produktetest, Fashiontrends, Reiseberichte etc.). Gegenwärtig setzen Konzerne beim Werben um Nutzergunst teils gar auf eigene Newsplattformen und Redaktionen. Eine Content-Strategie die von Kritikern und Konkurrenz aufmerksam beäugt wird. In Deutschland sorgt etwa das vom Telkommunikationsunternehmen E-Plus (Telefónica) lancierte Tech-Portal «Curved» für Furore. Seitens Initianten wird dabei betont, dass Curved in seiner redaktionellen Arbeit von der E-Plus Gruppe unabhängig sei. Im offiziellen Wortlaut:

«Das Unternehmen fungiert im Sinne eines Verlegers, der die CURVED-Redaktion beauftragt hat, die Lebenswelt der Leser unter der Devise „My Tech statt High Tech“ mit spannenden und inspirierenden Inhalten zu bereichern. Die Redaktion entscheidet selbstständig, mit welchen Themen und Schwerpunktsetzungen sie diesen Auftrag erfüllt. E-Plus nimmt keinen Einfluss auf redaktionelle Inhalte und Bewertungen von Produkten» (curved.de/about).

Wie Nachhaltig solch spannende Vermarktungsexperimente sind, wird sich weisen. Ob Konzernjournalismus überhaupt unabhängig sein kann, dürfte allerdings umstrittene Frage bleiben. Kommt hinzu, dass die Finanzierungsquellen dieser Internetseiten für Nutzer nicht immer unmittelbar ersichtlich sind. Wohl durchaus mit Kalkül. Die Beiträge von curved.de wissen inhaltlich sehr wohl zu überzeugen. Der Bezug zu E-Plus fällt beim Durchstöbern hingegen nicht zwingend ins Auge.

Kontinuierlich wachsende Beliebtheit von Online-Videoformaten spielt dem Content-Marketing  zusätzlich in die Karten. Befeuert wird der Trend auch davon, dass ansehnliche Videoproduktion keine teure Angelegenheit mehr sein muss. Selbst bei knappen Werbeetats können Firmen sich die Chancen filmischer Inhalte zunutze machen. Aufnahmen lassen sich mit Smartphone oder Tablet nicht nur aufzeichnen, sondern nötigenfalls sogar via Apps schneiden und effektvoll aufpeppen.

Facebook als neues Videoportal

Den Vormarsch von Bewegtbild unterstützt zudem der Fakt, dass Videos und animierte GIFs auch in den Überlegungen von Facebook massiv an Aufmerksamkeit gewonnen haben. Ausgedehnte Videoeinstellungen und Autoplay-Funktion sorgen seit dem Redesign 2014 für mehr Bewegung im Newsfeed. Seither ist das Rennen um erfolgreichen Video-Content endgültig eröffnet. Die Zahl der Video-Posts pro Person hat laut Facebook seither weltweit um 75 Prozent zugenommen. Bekanntermassen streben die Firmenstrategen im kalifornischen Menlo Park in Richtung geschlossenes System. Nutzer sollen die Facebook-Umgebung für Online-Aktivitäten möglichst gar nicht mehr verlassen müssen. Dazu gehört auch, dass mit Facebook Instant Articles redaktioneller Content von Medienhäusern vermehrt direkt via Facebook publiziert werden soll. Gleichzeitig versucht sich das grösste soziale Netzwerk als Videoportal-Alternative zu positionieren. Offiziell um Ladezeiten zu verringern und Benutzerfreundlichkeit zu verbessern. Eine weitere Konsequenz der Facebook-Strategie: Direkt auf Facebook platzierte Inhalte sorgen für grösseren Reichweitenschub als Link-Posts die auf externe Seiten verweisen (z.B. Youtube- oder Vimeo-Verlinkungen).ds

Ausblick:

Wohin geht die Reise im Tourismussektor?

Vergleichsweise zaghaft wird direkte Einbindung von nutzergeneriertem Video-Content bisher auf grossen Reise- und Buchungsportalen gefördert. Dabei sind Youtube, Livecams, Google Street View usw. längst beliebte Recherchetools für Reiseplanungen. Die Popularität von Impressionen und Rezensionen scheint zudem geradezu nach benutzerfreundlicher Implementierung von 360-Grad-Bildern und Videobeiträgen zu schreien. Sich vorab einen möglichst authentischen Eindruck eines Reiseziels zu verschaffen, ist ein essentielles Nutzerbedürfnis. Hält man vor Augen wieviele Reisevideos, Reisekanäle, Reiseblogger und Tourismusanbieter sich alleine auf Youtube tummeln, ist es wohl eine Frage der Zeit bis entsprechende Formatintegration konsequenter in Erscheinung tritt.

Von Anbietern oder Besuchern selbstgedrehte Erkundungstouren erhöhen die Verweilzeit auf einer Seite und könnten in absehbarer Zukunft auch deshalb auf Booking.com, Holidaycheck etc. an Präsenz zulegen. Strittige Knacknuss werden dabei landesspezifische Privatsphäre-Richtlinien sowie der Datenschutz bleiben. Dass Tripadvisor aber immer wieder am geeignenten Umgang mit Video-Content tüftelt, dürfte gleichwohl die Richtung weisen. Obwohl nicht allzu aktiv beworben: Nutzeruploads von maximal zehn Minuten Länge sowie die Veröffentlichung von werblichen Anbietervideos sind je nach Landeseeinstellung schon heute möglich (Anleitung Tripadvisor-Unternehmensvideo). Und was ist „The Next Big Thing“? Interessant wird zumindest sein, ob Virtual-Reality-Brillen wie Oculus Rift den Nerv der Zeit zu treffen vermögen. Oder ob sie als zu früh lancierter Technik-Hype (siehe 3D-Fernsehen oder Google Glass) vorerst wieder in der Versenkung verschwinden. Sehenswürdigkeiten bereits von zuhause aus, dreidimensional und realitätsnah zu erkunden, klingt jedenfalls durchaus verlockend. So oder so, die Bewegtbild-Zukunft verspricht spannend zu bleiben.


Titelvideo zum Blogbeitrag: Visit Zurich (Zürich Tourismus) setzt als „Trittbrettfahrer“ der koreanischen Longboarderin Hyojoo Ko bildstark auf Video-Content und die virale Verbreitung via Social Media.

Kommentar hinterlassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s